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Errol Marklein: Der Rollstuhl muss passen wie ein Schuh

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Mit der Erfindung des ersten europäischen Rennrollstuhls hat Errol Marklein eine international erfolgreiche Sportkarriere gestartet – und die revolutionäre Entwicklung des Alltagsrollstuhls angeschoben. Sein Glaube an die Technik und sein Wunsch, körperbehinderten Menschen zu einem selbstständigen Leben zu verhelfen, sind ungebrochen. Ein Interview mit dem Ausnahmesportler, Produktentwickler und Betriebsvisionär.

Anmerkung: Zuerst erschienen im Körpergeschichten-Sammelband.

Herr Marklein, Ihre Karriere als Sportler und Rollstuhl-Revolutionär hat 1975 mit einem großen Unglück begonnen. Denken Sie noch oft an den 12. September?

Nein, eigentlich nur, weil ein Freund von mir an dem Tag Geburtstag hat.

Was war passiert?

Ein Autounfall. Ich war mit drei Kumpels unterwegs, der Fahrer hatte vier Wochen vorher den Führerschein gemacht. Es gab ein technisches Problem, das Auto wankte, und der Fahrer versuchte, gegenzusteuern. Irgendwann kippten wir auf die Seite, rollten übers Dach ab und krachten in parkende Autos rein. Das war’s. Es gab keine Sicherheitsgurte damals. Ich bin bei dem Salto von der Rückbank nach vorn geflogen und auf der vorderen Sitzlehne durchgeknickt. Die anderen blieben unverletzt.

Was bedeutet “durchgeknickt“?

Der vierte und fünfte Brustwirbel haben sich auf der Höhe des Brustbeins voneinander wegbewegt. Die Ärzte haben mir gleich gesagt, dass ich nicht mehr würde laufen können.

Sie waren 18 Jahre alt. Ein Schock. Das Lebensende?

Nein! Für meine Familie und meine Freunde war das schlimmer als für mich. Ehrlich. Ich war umgeben von todtraurigen Menschen und habe gedacht: Ich bin sowieso nicht gelaufen. Ich habe immer nur gesessen, entweder auf meinem Moped oder auf dem Barhocker in der Kneipe. Ich habe nicht Fußball gespielt, nicht getanzt, keine Frauen über Schwellen getragen. Ich hatte nichts verloren. Das war der springende Punkt. Mit meinen Kumpels Saufgelage machen, das konnte ich nach wie vor. Und ich hatte Glück: Bei mir ist die volle Sensibilität erhalten geblieben. Ich konnte meine Beine zwar nicht mehr bewegen, sie aber immer noch spüren.

Errol Marklein

Können Sie sich noch daran erinnern, wie Sie das erste Mal in einem Rollstuhl saßen?

Da habe ich mich zum ersten Mal als Behinderter gefühlt. Das war ein furchtbares Gerät. Viel zu breit, viel zu schwer und total unhandlich. Die Rollstühle Ende der 70er Jahre waren nur dazu da, jemanden von A nach B zu schieben. Wir waren ja nicht Menschen mit einer körperlichen Einschränkung, sondern Patienten. Der Ansatz, dass im Rollstuhl eine Person mit dem Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben sitzt, die ihren Alltag gern selbst gestalten möchte, das war nicht angezeigt.

Sie wollten kein Patient sein?

Ich konnte zwar nicht laufen, aber ich wollte mich von Anfang an selbst bewegen und so wenig wie möglich zusätzlichen Aufwand erzeugen oder anderer Leute Zeit verbraten. Ich brauchte ein Kompensationsmittel unterm Hintern. Das war mein Ziel.

Wie haben Sie Ihre Begeisterung für den Sport entdeckt?

Ich war vor meinem Unfall übergewichtig und gänzlich muskelfrei. Sport war mir zu anstrengend, weil so viele besser waren als ich. Erst im Krankenhaus ging das los, ohne Konkurrenzdruck. Irgendwo lagen Hanteln rum. Die habe ich mir gegriffen und gemerkt, dass da Muskeln sind. Dann kam das Lob von meinem Krankengymnasten: „Das machst Du aber gut.“ Ein warmer Regen. Klang gut. Konnte man morgen nochmal machen. So hat sich das verselbstständigt.

Ihren ersten Rennrollstuhl haben Sie sich dann kurzerhand selbst gebaut.

Mir war klar, dass ich wahrscheinlich viel zu lang werde warten müssen, bis das jemand für mich erledigt. Diese Krankenfahrstühle damals, das ging gar nicht. Ich brauchte ein schnelles, leichtes, wendiges Sportgerät. Der Beckenbauer spielte doch auch nicht in Badelatschen Fußball! Ich hatte Glück, dass ich als Ideengeber auf zwei hochmotivierte Metallarbeiter gestoßen bin, Hugo Sorg und Erich Purkott. In ihrer Hinterhofgarage, einem umgebauten Schweinestall, haben wir losgelegt. Unser Produkt war der Sopur Track, das war sozusagen der erste Fußballschuh für Rollstuhlfahrer, die Rennen fahren wollten. Und es war der Beginn der Firma Sopur, die später von Sunrise Medical gekauft wurde.

Errol Marklein on tour

Sie haben sich innerhalb weniger Jahre von gänzlich muskelfrei bis zum Weltmeister hochtrainiert. Wie ist Ihnen das gelungen?

Der sportliche Erfolg hat sich gut angefühlt. Deshalb bin ich dabei geblieben. Mit dem aktiven Leistungssport habe ich zwar schon vor zehn Jahren aufgehört. Aber ich gehe auch heute Abend wieder in die Muckibude, weil mir das einfach Spaß macht. Ich quäle mich nicht, ich schwitze gern. Und ich spüre mein Herz, wenn’s schlägt.

Sie sind mehrfacher Paralympics-Sieger, haben 1995 im Rennrollstuhl den New York Marathon gewonnen und 2006 als erster querschnittgelähmter Teilnehmer das 560 Kilometer lange Straßenrennen nonstop von Trondheim nach Oslo mit dem Handbike absolviert. Auch in der Firma lief es gut, nicht wahr?

Wir haben uns über die Jahre einen Namen gemacht. Zuerst waren wir bei Sopur zu viert, heute [Anmerkung: Stand September 2017] haben wir bei Sunrise Medical alleine am Standort Malsch rund 300 Mitarbeiter - weltweit über 2000. Wir haben uns vom Sport- zum Alltagsrollstuhl hin bewegt. Denn was beim Sport ein absolutes Muss darstellt – wenig Gewicht, Wendigkeit, individuell angepasste Formen -, das bringt mir im Alltag auch sehr viel. Wenn der Rollstuhl ein Teil von mir wird, kann ich mich darin optimal bewegen und meinen Alltag wieder so gestalten, wie ich es vorher auch konnte. Ich ziehe ihn an wie ein Paar Schuhe morgens. Und diese Schuhe sollten in 42,5 genau passen und nicht, weil jeder reinpasst, in Größe 45 sein. Bei uns gibt es bis zum heutigen Tag keine Serienfertigung. Jedes Produkt hat seinen Kunden, der uns genau sagt, was er haben will: so breit, so hoch, so tief, so schwer, so farbig. Faltbar oder mit starrem Rahmen. Die Materialien der Greifringe, die Bezüge und Formen der Kissen… Es gibt eine aberwitzige Anzahl von Kombinationsmöglichkeiten.

An der Entwicklung der Firma waren sie maßgeblich beteiligt. Aber Sie wären ohne Ihre Behinderung sicher nicht auf die Idee gekommen, Rollstühle zu entwickeln. War der Unfall für Sie eine Chance, Ihre Berufung zu finden?

Nein, das mit der Firma war nur ein glücklicher Zufall. Aber der Rollstuhl an sich hat mir die Chance gegeben, anders auf Menschen zuzugehen. Ich sah damals ja schon etwas verwegen aus: ewig lange Haare, gammlige Klamotten, Kippe im Mundwinkel. Wenn du so einen 18-jährigen siehst, steckst du den sofort in die Schublade: Schnösel, Weißnix, Kannix. Jetzt kommt aber derselbe Typ im Rollstuhl. Da ist erst mal alles auf Null gesetzt. Da wirst du in keine Schublade gesteckt. Auf einmal wollen die Leute mit dir. Aus Mitgefühl, Mitleid, Unwissenheit. Die Leute sind dir immer erst mal freundlich gesinnt. Als Fußgänger hätte man mir nicht zugehört, als Rollstuhlfahrer schon. Denn der Rollstuhlfahrer ist keine Konkurrenz. Das sage ich auch den Anfängern im Rollstuhl. Es ist wichtig, dass sie das erkennen. Und dann kommt’s natürlich drauf an, was sie sagen.

Haben Sie bis heute das Sagen in der Firma?

Nein, ich war nie Chef oder Geschäftsführer. Ich bin nach wie vor als Produktentwickler tätig, sozusagen als Advokat der Benutzer. Ich arbeite mit Ingenieuren zusammen und überlege mir, welche Änderungen oder Erweiterungen für den Endverbraucher einen Mehrwert darstellen könnten. Außerdem leite ich unser Handbike-Team, welches wir anfangs „Team Sopur Quickie“ tauften - weltweit sind mittlerweile noch weitere Sportler Teil unseres "Team Sunrise". Um unsere Philosophie zu verbreiten, habe ich Leute gesucht, die uns als role models dabei unterstützen. Das sind Profisportler und Sportmanager, die auch ein Handicap haben. Wir unterstützen das Tun dieser Leute, und sie berichten draußen in ihren Kreisen als unsere Botschafter, wie sie mithilfe von guter Technik nach ihrem Unfall oder Unglück in ein selbstbestimmtes Leben zurückgefunden haben. Sie sind gewissermaßen die lebenden Beweise dafür, dass einem die Technik echt helfen kann.

Wenn ich höre, dass ich nie wieder werde laufen können, muss ich das aber erst mal verarbeiten. Was macht den Menschen nach einem Unfall am meisten zu schaffen?

Die Abhängigkeit und der Verlust der Körperkontrolle. Im Baby-Status zu sein und gepflegt werden zu müssen, das geht erst mal am tiefsten rein. Dann kann man schauen, wie man das wieder unter Kontrolle kriegt und welche Angebote man machen kann. Meine erste Frage ist immer: Was hast Du verloren, woran knabberst Du jetzt am Härtesten? Wenn ich das weiß, kann ich versuchen, es durch die Weitergabe von Wissen oder technischen Möglichkeiten zu kompensieren. Es gibt heute auf der Klaviatur von da bis da unheimlich viele Möglichkeiten.

Aber was heißt das konkret, wenn ich am liebsten mit dem Hund durch den Wald gejoggt bin oder für mein Leben gern getanzt habe? Es ist doch weitaus nicht alles kompensierbar?

Alles nicht, aber vieles. Ich habe auch zwei Hunde und einen Scooter, in dem normalerweise Oma durch das Shopping-Center fährt. Mit größeren Reifen, leistungsfähigerem Motor, dreirädrig und geländegängig sind Schotterwege kein Problem. Damit kann ich die Hunde ausführen. Der Turniertänzer muss sich entscheiden, ob der Rollstuhltanz das Tanzen ist, was er will – oder nur Rollstuhlrumkreiseln. Vielleicht sucht er sich auch etwas ganz Neues? Wir haben gerade einen elektrischen Rollstuhl hergestellt, mit dem einer Hockey spielen kann (siehe E-Hockey-Kit für Elektrorollstühle). Der kann seinen Schläger am Basisrollstuhl festmachen und über den Joystick steuern. Wir haben am Rahmen eine Vorrichtung für die Sauerstoff-Flaschen eingebaut. Da hängt also ein Beatmungsgerät mit dran. Daran sieht man: Gibt man den Leuten Technik, dann fangen sie an, wieder Spaß zu haben im Leben.

Ein Rollstuhl zum Hockeyspielen für einen Schwerbehinderten – das klingt nach einer großen Verantwortung für den Hersteller.

Das ist richtig. Ein Rollstuhl ist ja kein Staubsauger, bei dem es nicht schlimm ist, wenn er mal nicht funktioniert. Wenn mein Rollstuhl ausfällt, dann bin ich von 100 auf Null. Von Alles-allein-machen-können zum Pflegefall. Bei den Elektro-Produkten für Schwerstbehinderte ist die Verantwortung exorbitant hoch. Wenn jemand mit dem Joystick seine Haustür öffnen will, muss das funktionieren, auch bei Schneefall und zehn Grad minus…

Woher haben Sie Ihr großes Interesse und Ihr Vertrauen in die Technik?

Das wurde mir in die Wiege gelegt. Mein Vater ein Praktiker. Mit dem habe ich viel am Auto geschraubt, beim Hausbau mitgeschachtet, betoniert. Wenn was kaputt geht, habe ich immer eine Idee, wie man es reparieren kann, dazu ein Verständnis von Statik, Haltbarkeit und Machbarkeit.

Was bedeutet Ihnen Ihr Rollstuhl?

Das sind die Schuhe oder die Lieblingsjeans, die ich morgens anziehe. Ich freue mich wenn es passt. Ich könnte auch theatralisch sagen: Das ist mein Freund.

Der Rollstuhl könnte Ihnen auch jeden Morgen sagen: Du bist querschnittgelähmt.

Nein, das denke ich nicht. Ich ärgere mich eigentlich nur, wenn ich abends kalte Füße habe. Dann mache ich spezielle Übungen, die sind ziemlich anstrengend. Wenn ich will, dass unten was ankommt, muss ich oben Tsunami machen… Im Grunde aber ist bei mir alles andere drumherum so positiv, dass ich mit den kalten Füßen klarkomme.

Sehen Sie sich überhaupt als behinderten Menschen?

Klar, ich bin behindert. Ich merke das immer bei den praktischen Sachen. Wenn was hin und her zu tragen ist. Vieles ist aufwendiger, umständlicher. Und alles braucht viel mehr Zeit.

Gibt es etwas, das Sie gern machen würden, aber nicht können?

Ich würde gern einmal mit meiner Tochter am Strand lang laufen. Den Sand beim Laufen spüren… Aber ich kann leider nur da sitzen und ihr zusehen. Das tut mir schon ein bisschen weh. Aber ich jammere auf hohem Niveau. Viele Menschen kommen gar nicht an den Strand. Oder haben keine Tochter.

Haben Sie Pläne, was sportmäßig als Nächstes dran ist?

Trondheim – Oslo möchte ich nochmal machen.

Sie wollen als 60-Jähriger 560 Kilometer nonstop mit dem Handbike durch Norwegen fahren. Das ist an der Schnittstelle zwischen Sport und Wahnsinn, oder?

Ja, das ist schon ein bisschen krank, fühlt sich aber sehr gut an. Ich kann zwei Tage lang meiner Leidenschaft frönen und habe um mich herum Menschen, die das unterstützen und geil finden. Was will ich mehr? Keiner textet mich zu, keiner ruft mich an, keiner will was. Nur den Wind im Gesicht. Ob ich es zum 60sten mache, ist aber noch nicht sicher. Meine Tochter will mich begleiten. Im Jahr darauf wird sie 18. Sie hat dann ihren Führerschein und kann allein Auto fahren. Das würde das Ganze ein bisschen einfacher machen.

 

ÜBER ERROL MARKLEIN

Errol Marklein hat so viel wie kaum ein Zweiter in der Rollstuhl-Szene bewegt. Seine internationale Sportkarriere beendete er 2006 und konzentriert sich seitdem als Manager des erfolgreichen Handbike-Teams "Team Sopur Quickie" (später: "Team Sunrise") auf die Förderung neuer Talente. Darüber hinaus ist er Chefkonstrukteur des mit dem Plus X Award als "Bestes Produkt des Jahres 2013" ausgezeichneten Handbikes Sopur Shark RS. Privat fährt er den Aktivrollstuhl SOPUR Helium Pro.