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Die Freiheit dort oben

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Stefan hatte eine Idee – mit einem E-Rolli hoch zur Tannenhütte. Als er davon erzählte, kam mir sofort der Gedanke: „Das funktioniert doch nie! Der Weg durch die Schlucht ist viel zu anspruchsvoll.“ Das dachte ich nicht umsonst, denn ich kenne den Weg. Zur Weihnachtsfeier unseres Vereins Bewegung und Begegnung BUB e.V. waren wir im Dezember 2018 dort oben am Fuß des Wank. Damals hatte Hüttenwirt Andi Hertle weitere Vereinsmitglieder und mich mit dem Auto hoch zum Parkplatz gefahren. Danach ging es per Pedes – natürlich mit Unterstützung - über die Hängebrücke in beeindruckender Höhe über der Schlucht zur Tannenhütte. Die wunderschöne Hütte mit Blick auf die Zugspitze war erst vor Kurzem komplett barrierefrei erbaut worden.   

Während ich mich an die letzten Meter vor der gemütlichen Einkehr erinnerte, verspürte ich Sehnsucht nach der Bergwelt. Kurz darauf hörte ich wieder Stefan, wie er nachhakte: „Machst Du Testfahrerin?“ Kurzes ratloses Lachen meinerseits. „Warum ausgerechnet ich?“ Aber er kannte mich nur zu gut! Ohne lange nachzudenken, stimmte ich zu.

Schnell stellte sich heraus, dass der Probelauf nicht nur als Extremtest für einen einzigartigen Offroad-Elektrorollstuhl dienen könnte. Auch für unsere Vereinsidee, die Tannenhütte als festen Partner des BuB“ bekannt zu machen, war das angedachte Event eine Chance, die wir nutzen wollten.

Am 14. Mai sollte es so weit sein. Doch dieser erste Termin fiel im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser. Die „Eisheilligen“ machten ihrem Namen alle Ehre und bescherten uns unablässigen Regen und Kälte. Beim zweiten Anlauf hatten wir mehr Glück. Bei traumhaftem T-Shirt-Wetter trafen wir uns am Kletterwald in Partenkirchen.

Mit von der Partie waren neben unserem Ideengeber Stefan noch weitere BuB-Mitglieder. Sunrise Medical, das Rollstuhlunternehmen, das uns den Extreme X8, produziert vom australischen Tochterunternehmen Magic Mobility, bereitgestellt hatte, war vertreten durch Rainer Friedel, zuständig für den Vertrieb Süddeutschland sowie durch den Technikexperten Alex Prikope.

Nach einer kurzen Einweisung in die Handhabung des X8 ging‘s los! Zuvor hatte ich noch die Produktbeschreibung studiert. Jetzt konnte ich also alle Versprechen auf den Prüfstand stellen. Der X8 bringt als Allrad eine Geschwindigkeit von bis zu 10 km/h auf die Straße. Er verfügt über fünf Gänge, die jeweils fünf Einstellungen ermöglichen. Nach Herstellerangaben schafft der Offroad-Elektrorollstuhl 18 % Steigung. Man kann die Sitzhöhe verstellen, was sich als praktisch herausstellt, etwa um einen Tresen zu erreichen. Auch die Neigungsmöglichkeiten lassen nichts zu wünschen übrig. Eine bequeme Ruheposition kann ganz einfach eingestellt werden. Nützlich erweist sich die Neigung zudem bei steiler Talfahrt, vor allem, wenn es darum geht, eine sichere Fahrposition beizubehalten.

Wir starten vom Kletterwald-Parkplatz in Richtung Partenkirchen an Sankt Anton vorbei, den Kreuzweg entlang, lassen die Häuser allmählich hinter uns, und kommen schließlich am Forstweg an. Dann geht’s weiter, zunächst auf geteerter Straße, dann auf Kies. Aber der Weg ist trocken und gut zu fahren. Zum ersten Mal seit Langem führe ich die Gruppe an – eine ganz neue Erfahrung, denn eigentlich habe ich seit Jahren immer die Nachzügler-Rolle gepachtet. Juhu!!!  Welch‘ ein Genuss.

Ich fahre mal schneller, mal langsamer, überhole und lasse mich wieder zurückfallen. Und dann erreichen wir schon den oberen Parkplatz. Die Forstarbeiter sind gerade fleißig am Arbeiten.

Wir wollen den X8 auf Herz und Nieren testen. Der Weg führt nun über schwierige Passagen. Aber ich fühle mich ganz sicher; Aussteigen ist zu keinem Zeitpunkt eine Option. Auf der nunmehr steilen Fahrstraße gilt es nun, groben Schotter zu überwinden. Der X8 hüpft auf den großen Steinen hin und her und scheint sich durchaus anzustrengen. Doch mir als Fahrerin gibt er stets ein absolut sicheres Gefühl. Kurzes Stehenbleiben, problemloses Wiederanfahren - und das bei 30 % Steigung. Wer hätte das gedacht?! Vor der Abfahrt stellt Alex die Lenkung noch fest und neigt den Sitz nach hinten. Jetzt fährt der X8 noch wesentlich ruhiger und ich blicke nicht direkt in die Tiefe. Wieder am Parkplatz angekommen sind wir alle schwer beeindruckt von der Leistungskraft des X8.

Einen kurzen Abstecher durch die Wiese zur Sonnenuhr kann ich mir in meinem Enthusiasmus nicht verkneifen. Ganz bewusst peile ich die hügeligste Stelle an, doch auch hier zeigt sich der X8 ganz souverän. Einmal die Sonnenuhr ausprobiert – ich war fast zu klein im Sitzen – aber mit Hilfe meines Sonnenhutes reichte es dann doch und ich habe die richtige Uhrzeit angezeigt.    

So jetzt noch die letzte Etappe! Vor uns liegt die Schlucht – offen gesprochen: ein Angstgegner für mich. Zwischendurch ist mir dann auch etwas mulmig zumute. Aber selbst die Wasserrinnen, wo stellenweise 10 cm hohe Stufen zu nehmen waren, werfen mich im X8 nicht aus der Bahn.
Dennoch beruhigt es, die ganze Tour über Alex neben mir zu wissen, auch wenn er kein einziges Mal eingreifen muss.

Jetzt noch die Hängebrücke – nur nicht runterschauen! Aber sie ist gut breit und stabil genug, selbst wenn jemand entgegenkommt. Den Endspurt über eine kleine Steigung hoch zur Tannenhütte nehmen wir mit Leichtigkeit: Heureka, Erste !!!!!!!

Vor lauter Euphorie, gut und sicher angekommen zu sein, fahr ich bei der Hütte gleich noch einen Blumenkübel um. Aber nichts passiert! Wirtin Anna nimmt‘s mit Humor … Das Behinderten-WC erreiche ich im Rollstuhl ohne Probleme. Heute läuft‘s!

Bei erfrischenden Getränken und Kässpatzen tauschen wir uns in „griabiger“ Runde aus. Über den X8 herrscht Einigkeit: Was für ein Wahnsinns-Gefährt!

Zurück am Ausgangspunkt sind wir alle ziemlich geschafft, aber auch total geflasht von den faszinierenden Eindrücken und überglücklich über den gelungenen Testlauf. Der nächste Termin steht schon fest.

Danke für diesen herrlichen Tag und das unbeschreibliche Gefühl der Freiheit!